VOGEL-Interview: Die systemische Herausforderung ist noch größer als durch Putins Russland

Der Erste Parlamentarische Geschäftsführer Johannes Vogel gab der „Süddeutschen Zeitung“ und „Sueddeutsche.de“ das folgende Interview. Die Fragen stellte Daniel Brössler.

Frage: Wie unterscheidet sich die China-Politik der Ampel von der China-Politik der vergangenen 16 Jahre Merkel?

Vogel: Sie muss sich grundlegend unterscheiden. Als Angela Merkel ihre Kanzlerschaft begonnen hat, war es das China von Hu Jintao. Damals war das schon ein autokratisches System, aber die Herrschaft, die Xi Jinping errichtet hat, ist eine fundamental andere. Es ist bezeichnend, dass Hu Jintao gerade auf stalinistisch anmutende Weise vor den Augen der Welt vom kommunistischen Parteitag entfernt worden ist. Während der Kanzlerschaft von Angela Merkel ist diese fundamentale Veränderung nicht ausreichend verstanden und beantwortet worden. Das muss diese Bundesregierung anders machen.

Frage: Was heißt das konkret?

Vogel: Auch dieses China ist und bleibt ein Partner, mit dem man reden muss, zum Beispiel, um globale Probleme wie den Klimawandel zu lösen. Aber es ist eben auch ein systemischer Rivale. Die Tiefe dieser Herausforderung und die wachsende Gefahr dieser systemischen Rivalität können wir gar nicht überschätzen. Spätestens seit dem vom russischen Präsidenten begonnenen Angriffskrieg gegen die Ukraine müssen alle gelernt haben, dass man Autokraten in diesem neuen Systemwettbewerb ernst und wörtlich nehmen muss. Genauso wie Wladimir Putin offen gesagt hat, dass er der Ukraine die Staatlichkeit abspricht, sagt Xi sehr offen, dass er vor militärischer Gewalt gegenüber Taiwan nicht zurückschreckt. Und das muss uns aufschrecken.

Frage: Hat es aber bisher nicht?

Vogel: Der Fall des Hamburger Hafens, bei dem der chinesische Staatskonzern Cosco in ein Terminal einsteigen will, zeigt doch die Notwendigkeit einer China-Strategie der Bundesregierung, aber auch des Westens insgesamt. Da stehen wir gerade am Anfang der Debatte.

Frage: Zeigt der Besuch des Kanzlers in Peking nur wenige Tage nach dem Parteitag nicht, dass gerade alles so weitergeht wie bisher?

Vogel: Man kann sich die Frage stellen, ob dieser Zeitpunkt glücklich gewählt ist. Zum einen unmittelbar nach diesem Parteitag, der die Veränderung des Regimes noch einmal vor den Augen der Welt deutlich gemacht hat. Zum anderen, bevor die Bundesregierung ihre neue China-Strategie verabschiedet hat. Aber das ist müßig, weil der Kanzler das souverän entscheiden kann. Spannender ist die Frage, ob wir den Austausch, den es geben muss, nicht als Teil einer neuen Strategie viel stärker europäisieren müssen. Das würde zum Beispiel bedeuten, dass verschiedene europäische Regierungschefs nur noch gemeinsam nach Peking fahren oder Vertreter der europäischen Institutionen mitnehmen. Das ist die lohnendere Debatte für künftige Reisen.

Frage: Ist es in der China-Politik nicht gerade so, dass Grüne und FDP maulen und der Kanzler macht, was er will?

Vogel: Weder noch. Und diese Koalition aus drei Parteien hat den neuen Ansatz im Koalitionsvertrag ja auch klar beschrieben. Mit Blick auf den Hamburger Hafen haben sich noch unterschiedliche Herangehensweisen gezeigt, aber auch gesetzliche Unzulänglichkeiten. Die Möglichkeiten, bei solchen Geschäften einzugreifen, sind begrenzt. Das macht die strategischen Defizite der vergangenen Jahre noch einmal frappierend deutlich.

Frage: Inwiefern?

Vogel: Das Außenwirtschaftsgesetz passt nicht in die Zeit. Es unterscheidet offenbar nicht zwischen Besitzern und Betreibern von kritischer Infrastruktur und setzt zum Beispiel einen einstimmigen Widerspruch des Kabinetts voraus. Es müsste umgekehrt sein: In Bereichen von kritischer Infrastruktur müsste eine aktive Zustimmung erforderlich sein – etwa bei chinesischen Investitionen. Deswegen fordere ich einen China-Stresstest, in dem wir definieren, was wirklich sicherheitsrelevant ist, und auch prüfen, wo zu große Abhängigkeiten vom chinesischen Markt bestehen, und dabei auch Worst-Case-Szenarien durchspielen werden.

Frage: Mit dem Einstieg von Cosco in Hamburg haben Sie sich aber mittlerweile abgefunden?

Vogel: Meine Haltung ist klar: Es war und ist ein Fehler, dass Cosco bei einem Terminal-Betreiber im Hamburger Hafen einsteigen kann. Daraus müssen wir zwei Lehren ziehen: Erstens müssen die Gesetze reformiert werden und zweitens brauchen wir endlich einen einheitlichen europäischen Ansatz. Wir sehen doch hier, dass China versucht, Europa gegeneinander auszuspielen mit der Drohung, je nach Entscheidung mehr oder weniger Güter über einen Hafen abzuwickeln.

Frage: Gibt es denn in der Ampel eine gemeinsame Einschätzung der Gefahren?

Vogel: Offensichtlich noch nicht ausreichend. Deshalb ist die gemeinsame China-Strategie in Verbindung mit den China-Stresstest so wichtig. Nötig ist auch die öffentliche Debatte – übrigens nicht nur in Deutschland, sondern gemeinsam im Westen, verstanden als die marktwirtschaftlichen Demokratien rund um den Globus. Die systemische Herausforderung ist schließlich noch größer als durch Putins Russland.

Frage: Der Bundeskanzler plädiert für eine stärkere Diversifizierung, um unabhängiger zu werden von China, aber er warnt vor einer Entkoppelung. Ist das auch Ihr Ansatz?

Vogel: Handel und Investitionen müssen natürlich weiter stattfinden, aber auf Augenhöhe. Wir brauchen Reziprozität. Wenn chinesische Unternehmen sich in Europa in Häfen einkaufen dürfen, müsste das auch umgekehrt möglich sein. Ein anderer Fall ist die sicherheitsrelevante Infrastruktur, etwa in unserem Mobilfunknetz. Hier müssen wir chinesischen Einfluss ganz heraushalten. Der dritte Bereich sind die Grenzfälle. Hier dürfen wir im schlimmsten Fall nicht auf chinesische Lieferungen dauerhaft angewiesen sein. Wir müssen definieren, welche Bereiche das sind, und unsere Lieferketten diversifizieren. Die Globalisierung komplett abzuwickeln, auch nur mit der Volksrepublik China, wäre in meinen Augen eine große Dummheit. Viel klüger ist es, wenn wir gerade jetzt den Handel mit marktwirtschaftlichen Demokratien durch neue Freihandelsinitiativen stärken. Freier Handel für die freie Welt – mehr davon stärkt unsere Wehrhaftigkeit.

Frage: Wären wir im Fall einer chinesischen Invasion in Taiwan überhaupt in der Lage, Sanktionen zu verhängen wie gegen Russland nach dem Überfall auf die Ukraine?

Vogel: Es ist jedenfalls nicht nur eine Frage unserer moralischen Verantwortung, sondern auch unserer sicherheitspolitischen Verantwortlichkeit, dass wir uns für dieses Worst-Case-Szenario besser rüsten – gerade, um es zu vermeiden. Wir müssen glaubwürdig mit Konsequenzen drohen können.

Frage: Welche Botschaften erwarten Sie vom Kanzler in Peking?

Vogel: Er sollte faire Grundlagen für Handel und Investitionen einfordern, die Menschenrechte einschließlich der Freiheit Taiwans ansprechen und beherzigen, was er durch seine erste Reise ausgedrückt hat, die bewusst nach Japan führte. Wir müssen uns zu China generell mit unseren normativ Verbündeten um den Pazifik enger abstimmen, in einer Art „Demokratischen Allianz“. Ich glaube, hier brauchen wir auch einen echten organisatorischen Rahmen.

Frage: Menschenrechtler kritisieren die Reise. Ist es mit ein paar mahnenden Worten zu Menschenrechtsverletzungen getan?

Vogel: Nötig wäre es, dass endlich neutrale Beobachter in Xinjiang zugelassen werden. Die furchtbaren Berichte über Arbeits- und Umerziehungslager für Uiguren müssen durch internationale Stellen untersucht werden können, damit sich die Lage verbessert.

Frage: Müssen wir Angst haben vor China?

Vogel: Nein. Gerade, weil Xi Jinping die Natur des chinesischen Regimes so verändert und Eigentumsrechte und Marktwirtschaft durch Willkür unterhöhlt. Als freie Gesellschaften und mit der Innovationskraft, die aus Bottom-up-Kreativität, Vielfalt, Offenheit und Unternehmertum kommt, sind wir auf mittlere und lange Sicht überlegen. Ich bin ganz sicher: Wir werden den Systemwettbewerb gewinnen.